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Programmheft Carmen 2018

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Carmen von Georges Bizet Premiere: 19. Juli 2018 - 21.15 Uhr Oper in vier Akten (1875) Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der Novelle von Prosper Mérimée In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

SPANIEN UND FRANKREICH

SPANIEN UND FRANKREICH KONVENTIONEN UND FREIHEITEN Wie Micaëla stammt José aus dem christlichen Baskenland des spanischen Nordens und steht damit im Gegensatz zur keiner Religion angehörenden Carmen aus dem Süden: »Sie ist keine Maurin, Jüdin oder Christin, sondern Zigeunerin.« (Thomas Macho) Beide Hauptfiguren sind also keine genuinen Spanier und treffen als Außenseiter in Andalusien aufeinander. Den Handlungsort Spanien lernte Mérimée aus erster Hand kennen, er unternahm mehrere Reisen dorthin. Nachdem Napoleon Spanien Anfang des Jahrhunderts erobert hatte, reisten zahlreiche französische Künstler dorthin und ließen sich von der Landschaft und Kultur inspirieren. In Reiseberichten werden die Unterschiede zwischen dem Norden und Süden thematisiert, die sich in den Figuren José und Carmen widerspiegeln. Henri Cornille schrieb 1836: »Zwei große Einteilungen von Natur aus [...] Hier das Spanien des Südens [...] mit seinen Frauen mit schwarzem Haar, mit schwarzen brennenden Augen, dem elastischen, weichen Gang. Dort das Spanien der Pyrenäen mit seinen mit Eichen, Pinien und Kastanien bedeckten Bergen [...] mit seinen Frauen mit dunkelblondem Haar und weißer und rosenfarbener Haut.« Georges Bizet war nie in Spanien und kannte dennoch die Musik des Landes sehr gut. Denn auch in die umgekehrte Richtung reisten Künstler, Musiker und Tänzer. Spanische Tänze wie Fandango und Bolero waren allgegenwärtig in Paris. Bizet integrierte in seine Partitur die spanischen Klänge, die er in Salons und auf Veranstaltungen kennengelernt hatte. Besonders die Rhythmen, die in Carmens Seguidilla oder Escamillos Torero-Lied verarbeitet werden, verleihen der Oper eine spanische Anmutung. Carmens Lied im zweiten Akt wird von Kastagnetten begleitet. Ausgerechnet die berühmteste Nummer der Oper, Carmens Habanera, geht allerdings auf einen kubanischen Tanz zurück. Natürlich lassen sich diese Elemente als Klischees bezeichnen, »doch wer maßt sich an zu sagen, dass eine von Spaniern komponierte und aufgeführte Musik nicht spanisch sei?« fragt der Musikwissenschaftler Wolfgang Fuhrmann. VON DER OPER ZUM MYTHOS Auf anderer musikalischer Ebene verbindet der Komponist José und Micaëla, die für dessen Mutter die ideale Schwiegertochter wäre, miteinander. In der Oper des 19. Jahrhunderts ist es Konvention, dass der Tenor den Sopran liebt. Meistens stirbt am Ende der Sopran, manchmal auch der Tenor. Der Mezzosopran ist oft die erfolglos Liebende, der Bariton der glücklose Rivale oder Bösewicht. Die Rolle des Rivalen erfüllt der Bariton Escamillo, der bei Mérimée Lucas heißt. Da Micaëla, die in der Novelle nicht vorkommt, für einen Sopran komponiert wurde, erscheint die Verbindung mit dem Tenor José als die richtige. Doch José erliegt den Verführungen des Mezzosoprans, entgegen jeder Opernkonvention. »Die Mésalliance zwischen Tenor und Mezzosopran zeigt schon rein musikalisch, dass auf der Beziehung José – Carmen kein Segen ruht.« WOLFGANG FUHRMANN Diese Konvention war nicht die einzige, die der Komponist bewusst missachtete. Als Bizet 1872 von den Direktoren der Pariser Opéra Comique den Auftrag für eine Oper erhielt, entschied er sich bewusst für die Vertonung von Mérimées Carmen. Die beiden Librettisten hatten bereits mit zahlreichen Libretti für Jacques Offenbach für große Erfolge an anderen Theatern in Paris gesorgt. Die Gattung der opéra comique, mit der auch Carmen bezeichnet wurde, war für Bizet in die 46

Jahre gekommen. Opéra comique bedeutete im 19. Jahrhundert nicht mehr komische Oper und eine Parodie auf die »hohe« Oper, sondern bürgerliche Geschichten, die vor allem der harmlosen Unterhaltung dienen sollten. Zwischen den musikalischen Nummern gab es gesprochene Dialoge. Als der Kodirektor der Opéra Comique, Adolphe de Leuven, von Bizets Stoffwahl erfuhr, soll er gerufen haben: »Die Carmen von Mérimée! … Wird sie nicht von ihrem Liebhaber umgebracht? … Und dieses Milieu der Diebe, der Zigeuner, der Tabakarbeiterinnen! … an der Opéra Comique! … Sie werden unser Publikum in die Flucht schlagen … Das ist unmöglich!« In den Logen dieses Theaters wurden bürgerliche Ehen arrangiert, dazu passte der Stoff von Carmen nicht. Gegenüber der Novelle wurde das Libretto der Oper deutlich abgemildert. Mérimées Carmen arbeitet eindeutig als Prostituierte, José wird von Anfang als übler Bandit portraitiert, der schon in seiner Heimat einen Mord begangen hat. Dennoch blieben Josés Mord auf offener Bühne und das soziale Milieu der Außenseiter und Kriminellen provozierende Inhalte für das Publikum. Ein Affront war auch die allein tanzende Frau, sie galt als unzüchtig. Carmen setzt in Lillas Pastias Bar einen immer wilder werdenden Tanz in Gang, für José tanzt sie ganz allein und möchte ihn mit dieser Verführung für ihre Freilassung belohnen, wie sie in der Novelle sagt: »Ich zahle meine Schuld, so ist das Gesetz der cales!« Sie verweist auf das Gesetz der spanischen Zigeuner, der »cales«, und erfüllt mit ihren Tänzen und Liedern ein weiteres Klischee: die Musikalität. Den Liedern, die Carmen in der Novelle singt, verleiht Bizet in der Oper Musik. Carmen bedient sich des Singens, um ihre Ziele zu erreichen. Bizet verzichtet dabei immer wieder auf Worte und lässt sie trällern, sei es in Lillas Pastias Bar oder mit José allein. Ihren Gesang setzt sie auch als Waffe ein, um sich zu behaupten: Dem Verhör Zunigas entgeht sie singend, bis dieser genervt aufgibt und sie ihre Lieder im Gefängnis singen lassen möchte. Als José ihr daraufhin verbietet zu sprechen, fängt sie an zu singen und verführt ihn mit ihrer Seguidilla. Er erliegt ihr und lässt sie schließlich frei. CARMEN ERFOLG UND MYTHOS All diese ungewohnten und radikalen Elemente trugen dazu bei, dass die Uraufführung 1875 distanziert aufgenommen wurde. Zum Welterfolg wurde Bizets Oper erst nach dessen Tod in einer Gestalt, die dem ursprünglichen Charakter des Werks nicht entspricht. Bizet plante zwar für eine Aufführung an der Wiener Hofoper Rezitative anstelle der gesprochenen Dialoge zu komponieren, sein früher Tod 1875 verhinderte dies jedoch. Sein befreundeter Kollege Ernest Guiraud übernahm diese Aufgabe, die Librettisten schrieben neue Texte, sogar ein Ballett mit Musik aus anderen Kompositionen Bizets wurde eingefügt – so eroberte die Oper die Bühnen weltweit. Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde originales Material von der Uraufführung rekonstruiert. Es stellte sich heraus, dass noch im Probenprozess zahlreiche Änderungen vorgenommen wurden, um ein packendes Bühnenerlebnis zu schaffen. Aus demselben Grund wird in Kasper Holtens Inszenierung weitgehend auf die langen Dialoge verzichtet, um auf der Bregenzer Seebühne der mitreißenden Musik den größtmöglichen Raum zu eröffnen. Diese heute weltweit aufgeführte Musik, die dem Komponisten nach seinem Tod seinen einzig großen Erfolg mit einem Bühnenwerk bescherte, verwandelte Carmen in einen modernen Mythos und machte sie zum Inbegriff der verhängnisvollen Verführerin, die in zahllosen Inszenierungen, Bearbeitungen und Adaptionen immer wieder neu interpretiert wird. Bis heute hält die Faszination für diese Figur an. Wer ist Carmen? Gibt es eine Persönlichkeit hinter der mythischen Figur? Wer war Carmen, bevor sie zum Inbegriff wurde? Bereits bei ihrem ersten Auftritt in der Oper vor der Tabakfabrik wird sie als »la Carmencita« von allen Augen gesucht. In der Habanera besingt sie die Freiheit. Zu ihrer Freiheit gehört die Akzeptanz dessen, was sie als ihr Schicksal betrachtet und in den Karten bestätigt findet. Olaf A. Schmitt 47

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