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Festspielzeit Sommer 2022

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Das Magazin der Bregenzer Festspiele

OPER IM FESTSPIELHAUS

OPER IM FESTSPIELHAUS Die beiden Opern Sibirien und Madame Butterfly sind auf besondere Weise miteinander verknüpft: Sibirien wurde anstelle von Puccinis geplanter Oper 1903 in Mailand uraufgeführt, da dieser die Komposition noch nicht beendet hatte. Sie haben Madame Butterfly 2019 in Basel inszeniert, nun folgt Giordanos Sibirien in Bregenz. Gibt es für Sie eine Verbindung dieser beiden Werke? Vasily Barkhatov: In dieser Zeit war es vielleicht naheliegend, den einen »exotischen« Stoff durch einen anderen zu ersetzen, russisch statt japanisch, komponiert von einem ebenso populären Komponisten wie Puccini zu dieser Zeit. Und natürlich war Luigi Illica der Librettist beider Opern. Zunächst wirken beide Opern ähnlich, weil sie aus derselben Zeit stammen, aber bei genauerem Hinhören entdeckt man große Unterschiede, vor allem in der Art, wie die Handlung in Musik gesetzt wird. Puccini ist berechnender, Giordano emotionaler. Damit möchte ich nicht sagen, dass Puccini nicht emotional ist, aber aus heutiger Perspektive betrachtet arbeitet er wie ein sehr guter Hollywood-Komponist. Er weiß genau, wann er das Publikum zum Weinen und nah an Selbstmordgedanken bringt wegen der grausamen Tragödie auf der Bühne. Dann erlaubt er den Tränen auch mal eine Pause. Natürlich ist Puccini emotional, aber er komponiert rational, im guten Sinn. Seine Musik wirkt sehr professionell konstruiert. Giordano folgt in meiner Wahrnehmung eher dem entstehenden Gefühl in der Musik. Er hat weniger Angst davor, einen dramaturgischen Fehler zu machen, und folgt einfach seiner Intuition. Aber das Stück hat nichts mit dem Roman zu tun. Entscheidend ist die Geschichte im sibirischen Gefängnis. Die wichtigsten Themen sind für mich Verzeihung und Rechtfertigung. Der Protagonist in Sibirien tut das, wozu Alfredo in La traviata der Mut fehlt: Violetta in all ihren Facetten, mit ihrem Hintergrund zu akzeptieren. Vassili – witzig, dass wir beide denselben Namen haben – tut dies zweimal: zum ersten Mal, als er begreift, dass Stephana die Mätresse des reichen Mannes ist und es vor ihm andere gab – sie hat also den gleichen Beruf wie Violetta –, und zum zweiten Mal Jahre später im sibirischen Gefängnis. Hier gibt es den schönen Moment in der Oper, wenn Gleby vor allen die Wahrheit über Stephana verkün- det. Zunächst wird Vassili wütend und eifersüchtig – verhält sich also genauso wie Alfredo –, doch dann tut es ihm leid und er akzeptiert es als seinen Fehler. Es ist sein Problem, dass er ihre Persönlichkeit und Vergangenheit nicht akzeptiert. Schließlich bittet er um Verzeihung. Um es kurz zu sagen: Für mich steht Sibirien zwischen Leoš Janáčeks Aus einem Totenhaus und Giuseppe Verdis La traviata. Welche Auswirkungen hat das für die Erzählweise der Inszenierung? Die Geschichte, die ich auf der Bühne erzählen möchte, basiert auf Giordanos Musik. Wenn man sich dasselbe Libretto in einer Komposi- »Ich habe mich von Anfang an in diese Oper verliebt.« Worum geht es in Giordanos Sibirien besonders? Wie lässt sich der Inhalt beschreiben? Es wird oft gesagt, dass das Libretto auf Lew Tolstois Roman Auferstehung beruht, vielleicht weil am Ende der Oper dieser Tag gefeiert wird. 14

tion von Leoš Janáček oder Dmitri Schostakowitsch vorstellt, wäre es eine harte, gewaltsame Oper. In der Handlung gibt es sämtliche Zutaten: Gefängnis, sibirisches Lager, Liebe, Betrug, Hass … Doch Giordanos etwas zu schöne Musik verwandelt sie wie in einen französischen Film aus den 1960er-Jahren, wo selbst die schrecklichsten Taten und Verhältnisse gut aussehen. Die Oper wirkt ohnehin sehr romantisch und schön. Die Idee ist, dass die beiden Hauptfiguren ihre Liebe sogar in dieser von Tod und Kälte bestimmten Wüste in Sibirien finden können. Einerseits steht Sibirien für Kälte und Tod, andererseits für herrlich weite Natur in einer endlosen Schneelandschaft. Diese Assoziation an einen französischen Film war für mich sehr bedeutsam. Ich erinnere mich, dass sich meine Mutter zehnmal heimlich aus der Schule geschlichen hat, um immer wieder Die Regenschirme von Cherbourg im Kino anzuschauen, diesen Musicalfilm von 1964 mit Catherine Deneuve. Diese Geschichte ist brutal, wird aber durch die Musik sanfter und sogar schön: erste Liebe, er muss als Soldat in den Krieg, sie ist schwanger; als er zurückkommt, lebt sie mit ihrem Kind und einem reichen Mann … Wenn man sich diese Handlung als Oper von Schostakowitsch vorstellt, klänge sie wohl wirklich hart … Interessant ist, dass die Epoche um Puccini und Giordano Verismo genannt wird, in der es den Komponisten auch um eine Wahrhaftigkeit in der Musik ging … Diese Handlung in der musikalischen Sprache Giordanos kollidiert mit den realen Bedingungen der Geschichte. Die Verbrechen, das Gefängnis, diese Liebe in Sibirien, erzählt in italienischer Sprache, erzeugt eine Distanz zwischen mir und den Gefühlen. Wie im französischen Film wirkt es realistisch, aber auch ein bisschen märchenhaft. Daher habe ich entschieden, eine Protagonistin zu erfinden, die nicht in der Partitur steht, und sie wurde eine Hauptfigur. Sie singt die Worte einer kleinen Rolle und einige Zeilen Stephanas. Giordanos warmherzige Erzählweise einer furchtbaren Handlung brachte mich auf die Idee, dass es um eine Person geht, die ihre Geschichte entdeckt. Wir erzählen dies nicht im dokumentarischen Sinn, sondern als Geschichte einer italienischen Frau mit russischen Wurzeln, die Schritt für Schritt ihre Vergangenheit kennenlernt, weil sie seit ihrer Kindheit nicht mehr in Russland war. Sie entdeckt die Wurzeln ihrer Familie. Dies erlaubt uns, eine heutige Perspektive einzunehmen, aus der die Dame rekonstruiert, was vor über hundert Jahren passiert ist. Und solange sie es mit einer starken und warmherzigen Haltung tut, wird die Geschichte mehr und mehr zu einem historischen Disney-Film, in dem jeder Mensch schöner als in Wirklichkeit wirkt … Wie hat die russische Kultur, die Giordano und Illica selbst nicht persönlich kannten, diese Oper beeinflusst? Zu dieser Zeit war die russische Kultur eine Art Modeerscheinung. Selbst Giordano spielte in Fedora, der Oper vor Sibirien, mit diesem »Parfum«. In Sibirien benutzt er einige russische Volkslieder, was sehr gut gemacht ist. Ich habe mich von Anfang an in diese Oper verliebt, denn als erster Klang ist der A-cappella-Gesang des Chors im Stil der russisch-orthodoxen Kirche zu hören. Es hat nichts mit einem tatsächlich existierenden Gebet zu tun, aber derartig komponierter italienischer Chorgesang ohne Begleitung erzeugt unmittelbar eine Atmosphäre für dieses Stück. Das Publikum wird in die richtige Stimmung gebracht. Im zweiten Akt ist kurz die Melodie eines ukrainischen Volkslieds zu hören, das ich seit meiner Kindheit auch aus dem russischen Fernsehen kenne. Auch der Chorgesang im sibirischen Gefängnis beruht auf einem russischen Lied. Dieses Lied der Wolgaschlepper machte der Sänger Fjodor I. Schaljapin in Europa bekannt. Es ist eines seiner meistgesungenen Lieder. Ich versuche, in der Inszenierung diese etwas zu klischeehaften Elemente abzumildern – etwa wie Matroschkapuppe, Balalaika und Wodka … Giordano hat zwar die russische Kultur nicht in ihrer Tiefe entdeckt, aber durch die Auswahl und Verarbeitung der Melodien kam er der Mentalität sehr nah. Es ist ein bisschen, wie wenn man sich an einem unbekannten Ort einmal abseits der touristischen Routen bewegt, um den Geist einer Stadt oder eines Landes wirklich zu finden. Während des Kompositionsprozesses startete Giordano als Tourist, verließ aber die bekannten Routen für einige Momente, die besonders bewegen und berühren. OPER IM FESTSPIELHAUS SIBIRIEN Umberto Giordano Tragödie in drei Akten (1903) | Libretto von Luigi Illica | In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Premiere 21. Juli 2022 – 19.30 Uhr Vorstellungen 24. Juli – 11.00 Uhr 1. August – 19.30 Uhr | Festspielhaus Koproduktion mit dem Theater Bonn WERKSTATTGESPRÄCH Künstlerinnen und Künstler geben Einblicke in die Arbeit an Umberto Giordanos wenig gespielter Oper. 4. Juli 2022 – 20.00 Uhr | Festspielhaus Eintritt kostenlos, es wird dennoch eine Karte benötigt. SIBIRIEN 15

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