WER IST OKICHI? Auf der Werkstattbühne halten die Bregenzer Festspiele starke Plädoyers für die Musik der Gegenwart und setzen mit der Uraufführung von Fabián Panisellos Die Judith von Shimoda ihre enge und fruchtbringende Partnerschaft mit der Neuen Oper Wien und deren musikalischem Leiter Walter Kobéra fort. WERKSTATTBÜHNE Seit 1997 gibt es im Bregenzer Festspielareal die Werkstattbühne, eine 45 mal 37 Meter große, multifunktionale Black Box – und mit ihr ein einzigartiges Zentrum für zeitgenössisches Musiktheater in Österreich. Bereits die Eröffnungsproduktion im darauffolgenden Festspielsommer war eine Uraufführung: die Kammeroper Nacht von Georg Friedrich Haas. Seither sind in der Regel zwei Neuproduktionen pro Festivalsaison zu erleben. Die Werkstattbühne, für die gerade ein neues Foyer gebaut wird, ist eine Erfolgsgeschichte, worüber sich Festspielintendantin Elisabeth Sobotka besonders freut: »Wir wollen die ganze Bandbreite von zeitgenössischem Musiktheater präsentieren – und unser Publikum folgt der Einladung.« Opernproduktionen bedürfen einer langen Vorlaufszeit und so fanden bereits im August 2019 – vier Jahre vor der Uraufführung – erste Gespräche mit dem argentinischen Komponisten Fabián Panisello, der Neuen Oper Wien und den Bregenzer Festspielen statt. Passend zu Puccinis Madame Butterfly schlug Panisello als Librettovorlage Die Judith von Shimoda vor. Es handelt sich dabei um eine erst 2006 posthum veröffentlichte Bearbeitung von Bertolt Brecht und Hella Wuolijoki nach dem Schauspiel Nyonin Aishi. Tōjin Okichi Monogatari (Tragödie einer Frau. Die Geschichte der Ausländerin Okichi) von Yamamoto Yūzō. Die Parallelen zwischen den beiden Werken sind offensichtlich und dennoch ist die Bearbeitung ganz anders. VIELFACH BEARBEITETER STOFF Das 1929 von Yūzō geschriebene Original erzählt vom ersten US-amerikanischen Konsul, der 1856 im japanischen Shimoda eintrifft und bemängelt, dass er keine einheimische Dienerschaft bekommt. Als auch noch seine Gespräche über einen geplanten Handelsvertrag schwierig verlaufen, droht er, die Stadt beschießen zu lassen. Schließlich erklärt sich die Geisha Okichi bereit, dem Konsul zu dienen, um ihre Heimatstadt zu retten. Für ihren Umgang mit dem Ausländer wird sie jedoch trotz ihrer Ehe mit einem Japaner geächtet, verfällt dem Alkohol und wird wieder Geisha. Brecht sah in diesem gesellschaftskritischen Stück das Potential für »eine japanische Judith« und meinte damit »eine zu Ende erzählte Geschichte der großen Heldentat«. Mit dem Verweis auf die biblische Figur der Judith betonte Brecht die Verantwortung der Gesellschaft für Okichis Entwicklung. Mit der Uraufführung der Judith von Shimoda setzen die Bregenzer Festspiele nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich einen Kontrapunkt zum Spiel auf dem See. Philipp M. Krenn führt Regie und zeigt sich begeistert vom Projekt: »Spannend finde ich zum einen die Entstehungsgeschichte des Werks – die Tatsache, dass ein japanisches Stück zunächst von Brecht, dann vom Komponisten und schließlich von mir bearbeitet wird. Zum anderen: Judith als starke Frauenfigur, die, von der Gesellschaft instrumentalisiert, keine Chance hat, gegen den Druck ebendieser anzukommen. Die einzige Lösung, um ihren Weg zu gehen, ist, sich aus der Gesellschaft rauszunehmen.« An der Arbeit reize ihn die Größe des Schauspielstücks mit den vielen Rollen und Charakteren: »Es gibt einige Sänger:innen, die mehrere Rollen spielen müssen. Ferner ist es eine Uraufführung, niemand weiß, wie es am Ende des Tages klingt oder aussieht.« HISTORISCHER KONTEXT Um das Schicksal der im Stück als »Ausländer-Hure« beschimpften und verachteten Okichi einordnen 20
Wiener Melange Shimoda um 1853. Die japanische Stadt war einer der ersten Vertrags- häfen, die für den westlichen Handel geöffnet wurden. zu können, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen. Ab 1853 wurde das sich selbst von der westlichen Welt abschottende Japan gezwungen, seine Häfen zu öffnen und Handelsverträge zu unterzeichnen, in erster Linie mit den Vereinigten Staaten. Die Folgen waren eine Inflation im Land und ein sich zunehmend verschärfender Hass auf Ausländer in der Bevölkerung. Als Townsend Harris als erster US-amerikanischer Botschafter in die Stadt Shimoda kam und gegen den Willen der Eliten einen Handelsvertrag durchsetzen wollte, wurde die Geisha Okichi zwangsverpflichtet, für den Diplomaten den Haushalt zu machen. Sie wurde jedoch nach nur drei Tagen krank, verließ ihre Anstellung und wurde dennoch von der Gesellschaft für den kurzen Dienst bei einem Ausländer verachtet und verschmäht. In der Oper bleibt sie bei Harris und kann durch ihre selbstlose Aufopferung die Bombardierung ihrer Heimat verhindern. Aber die Gesellschaft verzeiht auch hier nicht und treibt Okichi in den Alkoholismus. Ganz am Ende der Oper singt sie in Lumpen gekleidet: »Man hat mich gepeinigt und genötigt, und jetzt schimpft man mich Närrin.« Ihr Frust ist mehr als verständlich und berührt uns daher als Figur umso mehr. Ganz ähnlich wie Cio-Cio-San als Madame Butterfly wird sie verzwecklicht und am Ende einfach weggeworfen. Die historische Okichi ertränkte sich nach ihrem finanziellen Ruin im Alter von nicht einmal 50 Jahren im Fluss Inozawa. Ihr Grab befindet sich im Tempel Hōfuku-ji in Shimoda, wo auch ein Museum ihr Schicksal in lebhafter Erinnerung hält. WERKSTATTBÜHNE DIE JUDITH VON SHIMODA Fabián Panisello Musikalische Leitung Walter Kobéra Insze nie rung Philipp M. Krenn Bühne | Kostüme | Video Susanne Brendel Wiener Kammerchor amadeus ensemble-wien PREMIERE 17. August 2023 – 20.00 Uhr VORSTELLUNG 19. August – 20.00 Uhr Werkstattbühne Bertolt Brecht, der eine Zeit lang in Wien lebte, soll über die Donaumetropole gesagt haben, sie sei »um einige Kaffeehäuser herum gebaut, in denen die Bevölkerung beisammen sitzt und Zeitung liest«. Als alternativer Wohn- und Arbeitsraum war das typische Wiener Kaffeehaus ganzjährig von früh bis spät geöffnet. Hier konnte man stundenlang bei einer Wiener Melange in Zeitschriften blättern, eigene Stücke verfassen oder sich mit Gleichgesinnten intellektuell austauschen. Fabián Panisellos Oper Die Judith von Shimoda ist eine Koproduktion der Bregenzer Festspiele mit der Neuen Oper Wien und beruht auf einem Stück, das von Brecht und der finnischen Schriftstellerin Hella Wuolijoki bearbeitet wurde. Wie so oft in seinen Dramen steht auch hier eine Frauengestalt im Mittelpunkt, die sich für die Gemeinschaft aufopfert. Die Geschichte der Heldentat wird bis zum bitteren Ende erzählt. Sie regt zum Nachdenken und Diskutieren an. Vielleicht bei einer Tasse Kaffee? Dallmayr wünscht Ihnen viel Genuss und eine wunderbare Festspielzeit. PARTNER DER BREGENZER FESTSPIELE 21
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