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Festspielzeit Winter 2021

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Das Magazin der Bregenzer Festspiele

DIE UTOPIE EINER LIEBE

DIE UTOPIE EINER LIEBE SPIEL AUF DEM SEE Giacomo Puccinis Madame Butterfly lässt Welten und Werte aufeinanderprallen. 8

Madame Butterfly ist die Tragödie einer Japanerin, die schmerzlich erfahren muss, dass ihr Bild von Amerika falsch war. In seiner 1904 uraufgeführten »Tragedia giapponese« stellt Giacomo Puccini zwei Klangwelten gegeneinander: die des Westens und die des Fernen Ostens. Und er etabliert auch gleich eine Hierarchie: Der Westen ist überlegen, der Osten dient. Dieser Kontrast ist ziemlich verurteilend – aber Puccini wird uns immer wieder signalisieren, dass wir in seiner Oper den Blick des Kolonialisten hören. EIN BLICK AUF DIE GESCHICHTE JAPANS Ab 1543 entdeckten portugiesische Seefahrer und europäische Jesuiten-Missionare den Archipel im Pazifik. 100 Jahre später wurden sie des Landes verwiesen und ein Einreisestopp über alle Ausländer verhängt, um das Land vor wirtschaftlicher, politischer und kultureller Invasion zu schützen. Es war die Dynastie der Tokugawa, in der die Shogune, hohe Militärs aus dem Adel der Samurai, in Japan herrschten. Über 200 Jahre lang hielten sie sich an der Macht – und verschliefen den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt der restlichen Welt. Währenddessen kreuzten russische Pelzhändler, amerikanische Walfänger sowie britische und französische Kaufleute in den Meeren rund um Japan. Sie suchten nicht nur Landeplätze, an denen sie sich erholen und mit Proviant versorgen konnten, sondern auch neue Handelsmärkte. 50 Jahre vor der Entstehung unserer Madame Butterfly waren die Shogune mit ihrer hoffnungslos veralteten Kriegs- und Waffentechnik nicht mehr in der Lage, die westlichen Nationen von ihren Häfen fernzuhalten. Sie mussten Handelsverträge unterzeichnen und ausländische Kolonien in ihren Großstädten und Häfen zulassen. Der erste und wichtigste wurde 1854 mit den Vereinigten Staaten von Amerika abgeschlossen. San Francisco erhielt die Erlaubnis, einen durch das Diplomatenrecht geschützten Konsul in der Handelsund Hafenstadt Nagasaki zu installieren. Seine Aufgabe war es, die Rechte der dort lebenden Amerikanerinnen und Amerikaner zu vertreten und bei Konflikten mit der japanischen Bevölkerung zu vermitteln. Zu solchen Konflikten kam es ständig, teils weil die Amerikaner im Sinne der 1893 auf der Weltausstellung von Chicago offensiv propagierten Überlegenheit der westlichen Zivilisation und Technologie über die der anderen Erdteile, arrogant auftraten, teils weil sich in Japan chauvinistischer Widerstand gegen die Überfremdung regte und es zu Attentaten und Prügeleien kam. Dieser Konsul ist die Figur Sharpless in unserer Oper. EIN FANTASTISCHES JAPAN Mit der Öffnung der Grenzen brach aber auch die Militärdiktatur der Tokugawa-Familie zusammen. Eine neue Generation von Modernisierern kam an die Macht. In atemberaubender Geschwindigkeit industrialisierte und verwestlichte sie das Land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Japan drängte auf den Weltmarkt. Dort verkaufte es seine Produkte, um Mittel zu erwirtschaften, mit denen es moderne Maschinen und Fachwissen einkaufen konnte. Seit den 1860er-Jahren beschickte es zu Werbezwecken in großem Stil die Weltausstellungen in Europa und den USA und erzeugte damit eine massenhafte Nachfrage nach japanischen Industriewaren im Westen. Zur Wiener Weltausstellung beispielsweise wurden 1873 ganze Häuser in Japan ab- und in Wien wieder aufgebaut, in denen Japanerinnen im Kimono Tee servierten. Der Erfolg war durchschlagend, es war die meistbesuchte Sektion der ganzen Ausstellung. Niemand soll sie laut Presseberichten wieder verlassen haben, ohne einen Papierfächer, einen Papierlampion oder einen Nippes-Buddha erstanden zu haben. Diese Nippes-Industrie sehen wir auch in Madame Butterfly. Sie florierte in ganz Japan und produzierte allein für den Westen. In Yokohama entstand beispielsweise in den 1880er-Jahren eine fotografische Exportindustrie großen Ausmaßes, die mit Statistinnen und Statisten in historisierenden Kostümen Szenen eines imaginären Alt-Japan inszenierten, das es nie gegeben hatte. Auch so genannte kulturhistorische Motive aus dem Alltagsleben wurden inszeniert, denen kein Japaner auch nur einen müden Blick geschenkt hätte. Die Menschen im Westen fantasierten sich mit Hilfe dieser künstlichen Massenware in eine heile ursprüngliche Welt hinein, die sie von den Zumutungen der Moderne erlöste: Hier war der Herr noch der Herr, der Diener noch der Diener und eine Frau noch eine unterwürfige Frau. MADAME BUTTERFLY 9

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