Boito propagierte eine neue Form der italienischen Oper und veröffentlichte seine Thesen in der von ihm gemeinsam mit Praga herausgegebenen Zeitschrift Figaro. Neben größeren musikalischen Einheiten innerhalb eines Aktes strebte er ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Libretto und Komposition an und empfahl, sich mit deutscher Kammermusik und vor allem dem musikdramatischen Werk Richard Wagners zu beschäftigen. Als exemplarisches Werk dieses »nuovo melodramma«, dieser neuen Form der Oper, sollte Faccios und Boitos Oper Amleto (Hamlet) dienen, die 1865 in Genua uraufgeführt wurde. Mit der Wahl von Shakespeares Drama stellten sich die beiden Künstler einer großen Herausforderung. Im Gegensatz zu dessen erfolgreichen Stücken wie Julius Caesar, Romeo und Julia, Othello oder Macbeth tat sich Italien mit Hamlet schwer. Dort wurde im 18. Jahrhundert zunächst Hamlets berühmter Monolog »Sein oder Nichtsein« isoliert übersetzt. In einer der ersten italienischen Ausgaben folgte Francesco Gritti der französischer Bearbeitung von 1769, in der Jean-François Ducis massive Veränderungen gegenüber Shakespeares Original vorgenommen hatte. Doch selbst diese Version schien dem berühmten Schauspieler Antonio Morrocchesi keine Erfolgsgarantie, weshalb er selbst den Hamlet unter Pseudonym spielte. Auf Basis von Grittis Bearbeitung, mit einem Happy End des Dramas, entstanden auch mehrere Opern. Selbst Felice Romani, der später mehrere Libretti unter anderen für Vincenzo Bellini schrieb, sah sich in seiner Fassung von 1822 zu einem glücklichen Ende aufgefordert. Zwar erwachte langsam ein Bewusstsein für Shakespeares Original, doch Giovanni Peruzzini, dessen Hamlet-Libretto 1848 und 1860 vertont wurde, war der Ansicht, dass »die erhabene Schöpfung Shakespeares alles andere als geeignet ist, um der beschränkten Form einer Oper angepasst zu werden.« In seiner Version ernennt der Geist am Ende des Dramas Hamlet zum neuen König, der mit den Worten »O giubilo!« (O Jubel!) die Oper beendet. Das mangelnde Opern-Potential von Hamlet, das Peruzzini attestiert hatte, formulierte Richard Wagner 1879 in seinem Tagebuch noch radikaler: »Der Musiker muss sich nicht bekümmern um das, was ihn nichts angeht. Hamlet geht den Musiker nichts an.« Ob er Faccios und Boitos Amleto gekannt hatte? HAMLET AUF DEM ALTAR DER KUNST 23
Faccio und Boito sind die ersten Autoren einer Hamlet-Oper, die sich Shakespeares Original tatsächlich verpflichtet fühlten. Natürlich mussten auch sie das komplexe und lange Drama kürzen, auf Figuren verzichten und Szenen für die Opernbühne bearbeiten. Sie taten das aber behutsam und detailgetreu. Schon der Beginn der Oper offenbart, wie geschickt Shakespeares Drama und die Theaterpraxis seiner Zeit übertragen wurden. Musik, Geräusche, erzählte Handlung spielten in Shakespeares Text eine große Rolle und ersetzten das oft nur angedeutete oder nicht vorhandene Bühnenbild. Anders als das Drama beginnt die Oper mit einem ausgelassenen Fest für den soeben gekrönten König Claudius, der Hamlets Onkel und nun Gatte seiner Mutter ist. Der Prinz erzählt Horatio bei Shakespeare: »Der König feiert heut die Nacht hindurch und macht sich an den Humpen, hält Zechgelage und schlingert im grölenden Stampftanz. Und wenn er seine Züge Rheinweins bis zur Neige runterleert, schmettern Kesselpauke und Trompete so das glorreiche Vollbringen seines Zutrunkes heraus.« In der opulenten ersten Opernszene verschmelzen diese jubelreiche Feier, ekstatische Tänze und Hamlets angewiderte Reaktion darauf miteinander. Berichtet Hamlet im Schauspiel von der Musik, die außerhalb der Bühne zu hören ist, holen Boito und Faccio diese Musik auf die Bühne. In dieser Szene charakterisiert Boito den König mit einem Trinklied, dessen ursprüngliche Funktion überraschend erweitert wird. Trillernd kündigen Flöte, Klarinette und Triangel ein fröhliches »Brindisi« (Trinklied) an. Doch nach vier Takten Allegro brillante nimmt die Musik ein deutlich langsameres Andante-Tempo, das Claudius‘ unerwarteten Worten »Den Verstorbenen ewige Ruhe« ein besonderes Gewicht verleiht. Erneute Generalpause nach vier Takten. Das schnelle Tempo kehrt zurück: »Und die Kelche fülle man mit erhabenen Tränken«. Dieser Kontrast wiederholt sich zu den Worten: »Lasst uns für sie beten – und der Kelch sei Opfer und Altar!« Claudius greift Hamlets zuvor geäußerte Trauer über seinen kürzlich verstorbenen Vater auf und lässt sich vom anwesenden Hofstaat für seinen Vorschlag feiern, diese Trauer am besten in jubelndes Trinken zu überführen. Dieser blasphemische Zynismus ist auch in Jagos Credo aus Boitos Otello-Libretto zu finden. Düstere, zynische Figuren zogen den Autor besonders an, seine selbst komponierten Opern heißen Mefistofele und Nerone. 24
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