To the Lighthouse ist nämlich ein ebenso fantastischer wie rätselhafter Text. Ich war nach dem ersten Lesen tief beeindruckt von der Fülle der Bilder, die auf mich einstürzten, die ich aber nicht immer gleich mit mir und meinem Leben in Verbindung bringen konnte. Einerseits schien mir vieles nahe und verwandt, vieles aber entschlüsselte sich erst nach und nach. Die Frage ist nicht, wie interpretiere ich einen Text, sondern was macht er mit mir und wie kann ich erreichen, dass er etwas mit dem Zuschauer macht. Im speziellen Fall liegt die Schwierigkeit beim Verfertigen des Librettos vor allem darin, einem Prosatext Dialoge zu entreißen, die Dauer der erzählten Augenblicke in eine Szenenfolge zu transkribieren, innere Monologe nach außen zu stülpen, ohne ihnen ihre Intimität zu nehmen und dem Komponisten eine Vorstellung der Seelenlandschaften zu vermitteln, die er durch seine Musik neu erschaffen muss. Dass der Komponist Zesses Seglias an der ägäischen Küste aufgewachsen ist, kommt dem Projekt ebenso zugute wie meine Obsession für das Meer und die mehr oder weniger mythische und manchmal durchaus sentimentale Sicht eines Binnenlandbewohners darauf. So stelle ich an den Beginn des Librettos als Hinweistext für die Ouvertüre die ersten Sätze aus Woolfs Roman Die Wellen: »Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Meer und Himmel lassen sich nicht unterscheiden, nur dass das Meer aussieht wie ein zerknittertes Tuch. Allmählich, während der Himmel weiß wird, erstreckt sich eine dunkle Linie am Horizont, die das Meer vom Himmel trennt, und das graue Tuch wird von dicken Streifen durchzogen, die sich, einer nach dem anderen, unter der Oberfläche bewegen, einander folgend, einander jagend, immerzu.« Diesen Zeilen folgt eine Textcollage aus verschiedenen Teilen von To the Lighthouse als eine Art Grundstimmung und Vorbereitung auf das kommende Geschehen: »Langsam, als ob ein Wunsch das halbfertige Bild zu vervollständigen trachtet, kommt vom Westen ein leichter Wind auf, der die Wellen blau ans Ufer rollen lässt. Die Möwen fliegen tief und scheinen mit ihren widerhallenden Schreien das Meer und den Himmel nach ihrer Botschaft zu fragen, nach der Vision all ihrer üblichen Zeichen göttlicher Großzügigkeit – die Blässe der Morgendämmerung, der Sonnenaufgang über dem Horizont, Fischerboote und Kinder. 8
ERNST BINDER Aber Meer und Himmel werden auch Zeugen für manches, das nicht im Einklang steht mit dieser Fröhlichkeit, dieser Heiterkeit. Zum Beispiel das lautlose Erscheinen eines aschenfarbenen Schiffs, das kommt und verschwindet; den rötlich dunklen Fleck auf der unschuldig aussehenden Oberfläche des Meeres, als hätte etwas unsichtbar in der Tiefe gebrodelt und geblutet. Es ist unmöglich, diese Bilder zu übersehen, seine Bedeutung aus dem Landschaftsbild zu beseitigen und die Frage zu ignorieren: Vollendet die Natur, was der Mensch ins Werk setzt? Vollendet sie, was er beginnt?« 9
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